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Barbara Honigmann: Georg

© Carl Hanser Verlag, München

Zu Hause Mensch und auf der Straße Jude


Den Winchesterkragen elegant um den Querbinder gelegt und mit hoher Stirn lächelt er dem Leser bereits auf dem Schutzumschlag charmant zu: Georg. Er ist der Protagonist in Barbara Honigmanns neuem und nach ihm benannten Buch, einer Hommage an ihren Vater, den Journalisten Georg Honigmann (1903-1984).
Entlang seiner vier Ehen („Mein Vater heiratete immer dreißigjährige Frauen. Er wurde älter, aber seine Frauen blieben immer um die dreißig“) zeichnet Honigmann Georgs Lebensweg geradezu essayistisch nach: Kindheit und Jugend im Großherzogtum Hessen-Darmstadt als Spross einer Ärzte- und Bankiersfamilie, Besuch der Odenwaldschule, Studium in Breslau, Promotion über seinen Namensvetter Büchner in Gießen, Redakteur der Vossischen Zeitung in Düsseldorf und Berlin, die Ehen mit Ruth, Litzy, Gisela und Liselotte. Honigmann erzählt, wie ihr Vater 1931 durch die „folgenreichste Lüge seines Lebens“ Korrespondent in London und nach Kriegsausbruch als „enemy alien“ in Kanada interniert wird und wie er 1946 nach 15-jährigem Exil nach Deutschland zurückkehrt, wo er sich, nachdem er in schon nicht mehr ganz jugendlichem Alter und eher aus Zufall zum Kommunismus gefunden zu haben scheint, in der Sowjetischen Besatzungszone niederlässt.
In „Georg“ geht es auf knapp 160 Seiten um die Geschichte eines Deutschen und Juden, eines „Pressemenschen“ und „Bildungsbürgers“, es geht um die geliebte Großmutter Anna, um eine „miese Erbschaft“ und das „ewige Zwischen-den-Stühlen-Sitzen“, um die Erfahrung des Exils, um Spionage im Kalten Krieg, um Verschollene und Rückkehrer, um ein Leben als Bohemien und Bürger und Kommunist, um schnelle Wartburg Cabriolets, um Ruth, Litzy, Gisela und Liselotte, um die Liebe zwischen Protagonist und Autorin. Dabei ist „Georg“ weitaus mehr als ein Buch über eine Vater-Tochter-Beziehung, vielmehr liest es sich wie eine Hommage an einen besonderen Freund. Ein Freund, der Zeit seines Lebens für die Engländer ein Deutscher und für die Deutschen ein Jude bleibt, und der zuletzt einige der großen Lebensentscheidungen infrage stellt.
Unter Verwendung von Akten der DDR-Staatssicherheit und „files“ des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5 zeichnet Honigmann in gewohnt einzigartig-dichter Prosa ein mitreißendes Porträt ihres Vaters, der selbst nie seine Memoiren festgehalten hat. Besondere Freude bereitet dabei die Lektüre einer dreiseitigen, um 1930 entstandenen und aus der Feder Georg Honigmanns stammenden Skizze über einen mit einem Freund verbrachten Abend: An einen Parisaufenthalt anknüpfend formuliert, erinnern diese Zeilen an den Duktus Franz Hessels und schwören gewissermaßen ein „Heimliches Paris“ herauf.
Nachdem sie sich ihrem Vater bereits in „Eine Liebe aus nichts“ (1991) gewidmet und mit „Ein Kapitel aus meinem Leben“ (2004) die unglaubliche Biografie ihrer Mutter Litzy Kohlmann vorgelegt hat, offenbart Barbara Honigmann nun, wenige Tage vor ihrem 70. Geburtstag, einen weiteren intimen Einblick in ihre bewegte Familiengeschichte. Zugleich ist „Georg“ eine tragikomische Liebeserklärung an einen „charmanten, unwiderstehlichen Misanthrop“.
Amir Wechsler

Barbara Honigmann: „Georg“. Hanser, München 2019, 158 S., 18 €.

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